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AutorenbildSilvano Dragonetti

Motorradfahren und der Flow-Zustand – Was mir meine Motorradexzesse über mich beigebracht haben

Aktualisiert: 30. Okt. 2023

Seitdem ich 2016 nach einer längeren Pause zum ersten Mal wieder auf ein Motorrad gestiegen war, habe ich viele Kilometer abgespult – teilweise über 20'000 km im Jahr. Rückblickend ist das keine Zahl, worauf ich stolz bin, denn ein nicht unwesentlicher Teil davon kam durch vermeintlich vermeidbare Fahrten zu Stande. Ich klammere mal bewusst grössere Reisen wie unsere Trips nach Schottland, Sardinien oder in die Dolomiten aus. Die Hauptmotivation für diese Reisen war klar: Zusammen mit meiner Partnerin oder Freunden neue Orte entdecken, andere Kulturen erleben und ganz einfach den Fahrtwind geniessen.


Doch wie gesagt bin ich auch sonst viel auf dem Motorrad gesessen. Während meine Freundin, welche auch unlängst selbst Motorrad fährt, immer einen Zweck beim Motorradfahren sucht (zum Beispiel einen Besuch von Freunden und Verwandten), scheint das bei mir nicht der Fall zu sein. Ich kann (oder konnte) auch einfach zum 20-sten Mal in der Saison dieselbe Strecke fahren. Erst der "Konsum" von vielen Podcasts und die Lektüre von einigen Büchern zeigten mir eine neue Perspektive, wodurch ich dem Grund, warum das bei mir so ist, langsam auf die Schliche kam.


Augen auf den Scheitelpunkt gerichtet

Image showing a motorcycle rider close up with a helmet. Very focussed
Apex Predator by Midjourney

Am einfachsten fällt diese Erklärung mit dem Blick auf ein Hobby, das ich mittlerweile weitestgehend aufgegeben habe: Trackdays. Beim Fahren auf der Rennstrecke ist man absolut eins mit seiner Maschine und zwangsläufig voll fokussiert. Jeder Fehler kann bestraft werden, ganz egal ob finanziell, gesundheitlich oder durch schlechte Rundenzeiten. Es gibt für mich aktuell fast kein Beispiel, was diesen Flow State besser beschriebt (naja, Aktivitäten wie ein Bosskampf in dem Videogame Elden Ring oder ein Konzert mit der Band zu spielen kommen ziemlich nahe).


Meine Freundin verstand nie gänzlich, warum ich Stundenlang im Kreis fahren konnte auf der gleichen Strecke. Nun kann ich es endlich erklären. Beim optimalen Flow-Zustand (Csikszentmihalyi, 1990) beschäftigt man sich mit einer Aktivität, die man gerne ausführt. Man gibt sich dieser Tätigkeit vollständig hin, ohne sich ablenken zu lassen. Sie fordert einem, ohne dass sie zur Überforderung führt. Man hat also das Gefühl, dass man die Kontrolle hat, was sich in Selbstvertrauen und Kompetenz äussert. Dass man dabei auch gerne mal das Bewusstsein für die Zeit verliert, zeigt sich spätestens, wenn man am Ende eines "Turns" in die Box zurückfährt und völlig ausgepowert ist. Auch wenn es nicht um die Platzierung im Wettkampf geht, visualisiert die Jagd nach besseren persönlichen Rundenzeiten oder nach dem perfekten Scheitelpunkt diesen Ansatz meines Erachtens bestens.


Wenn man sich beim Fahren realistische Ziele setzt und sich nicht mit den übermenschlichen Profi-Rennfahrern vergleicht, gibt einem dieser Adrenalinrausch auch eine unglaubliche Befriedigung… wären da nicht die hohen Kosten und die Implikation, dass man dabei natürliche Ressourcen verschwendet. Aber ich will da nicht mit dem Finger zeigen, ich überlasse das Urteilen da jedem selbst.

An image that shows a motorcycle rider on a racetrack
Trackday enthusiast by Midjourney

Die Strasse ist keine Rennstrecke


Zurück auf der Strasse, muss ich mir zwangsläufig noch einmal die Frage stellen, warum ich denn ein ähnliches Gefühl entwickle, wenn ich auf öffentlichen Strassen unterwegs bin. Während meine Freundin auch gerne Mal in der Landschaft Umschau hält und die niedlichsten Tiere am Strassenrand entdeckt, ist mein Blick meistens fest auf die Strasse gerichtet. Klar scanne ich im Sekundenbruchteiltakt mögliche Hindernisse und Gefahren, mein Hauptaugenmerk gilt aber der Strecke vor mir und wie ich die mit einem möglichst schönen Fluss durchfahren kann.


Keine Angst: Ich weiss, dass Kneedowns und überhöhte Geschwindigkeiten auf der Strasse nichts zu suchen haben. Aber ich mag einfach, wenn man Kurven mit einem schönen Flow durchfahren kann. Allerdings muss ich selber zugeben, dass ich mich in der letzten Zeit dabei ertappt habe, wie ich mich zu sehr über langsame Verkehrsteilnehmer aufrege oder Überholmanöver setze, die zwar nicht gefährlich sind, jedoch für andere Strassenbenützer vielleicht nicht immer erwartet kommen. "Die Strasse ist keine Rennstrecke", muss ich mir immer wieder sagen.

Motorcycle rider on a road on a classic bike
Roads of Life by Midjourney

Und wie ich das schreibe, kommt mir etwas Anderes in den Sinn. Der bekannte Philosoph Seneca stellte in seiner Lebzeit viele interessante Lehren auf, welche auch heute noch relevant sind. Eine der zentralen Lehren Senecas war Stoizismus und Kontrolle (OpenAi, 2023a). In der stoischen Tradition wird unterschieden zwischen Dingen, die wir kontrollieren können (unsere Handlungen, Urteile und Wünsche) und solchen, die wir nicht kontrollieren können (äussere Ereignisse, die Meinung anderer, etc.). Seneca plädierte dafür, sich auf das zu konzentrieren, was wir kontrollieren können, insbesondere auf unsere Reaktionen auf Ereignisse, anstatt sich über Dinge aufzuregen, die ausserhalb unserer Kontrolle liegen.


Im Bezug auf den Verkehr lässt sich sicher sagen, dass man mehr Geduld mitbringen oder halt den unkontrollierbaren Faktoren aus dem Weg gehen sollte. So macht es beispielsweise einfach keinen Sinn, am Wochenende tagsüber die beliebten Passstrassen wie Susten und Co. unter die Räder zu nehmen. Für den Arbeitsweg kann es sinnvoll sein, auch mal eine wenig befahrene Nebenstrasse zu wählen, wo man fünf Minuten länger unterwegs ist. Dafür senkt man den Stressfaktor auf diese Weise.


"Be Water, my friend" - Bruce Lee

An image that showcases a man that is in a flow with the nature around
Be Water by Midjourney

Bruce Lee vertrat die Auffassung, dass man stets flexibel, anpassungsfähig und unvoreingenommen sein sollte. (OpenAI, 2023b). Auch ich möchte mich bemühen, mehr in einem Fluss zu leben und die Dinge aus einer Anderen Perspektive zu betrachten.


Wenn ich etwa erwarte, dass Motorradfahrer auch in Zukunft noch toleriert werden, muss ich mich auch dementsprechend verhalten. Für mich heisst es daher, dass ich fortan meine Touren bewusster gestalte und in vollen Zügen geniesse, ohne dem Exzess zu verfallen. Und letzten Endes möchte ich meine Flow-Energie auch mehr in Projekte investieren, die auch anderen Menschen Freude bereiten. Ob das nun bei der Arbeit oder beispielsweise im Rahmen meiner Band ist – die Möglichkeiten, in den Flow-Zustand zu kommen sind vielseitig.


Wer mehr dazu erfahren möchte, dem kann ich die Lektüre von Limitless von Jim Kwik sehr ans Herz legen. Man lernt in diesem Buch nämlich noch sehr viel mehr. Beispielsweise viele interessante Lerntechniken oder warum es nicht immer so einfach ist, den Flow-Zustand zu erreichen und es Superschurken gibt, die nur darauf warten, ihn zu brechen (Kwik, 2020).


Wie sieht das für Sie aus? Können Sie nachvollziehen, woher die Leidenschaft beim Motorradfahren kommt?


Quellen:

  • Csikszentmihalyi, M. (1990). Flow: The Psychology of Optimal Experience. Harper & Row.

  • Kwik, Jim. (2020). Limitless: Upgrade Your Brain, Learn Anything Faster, and Unlock Your Exceptional Life. Hay House Inc.

  • OpenAI. (2023a). Comprehensive overview of Seneca's teachings. ChatGPT.

  • OpenAI. (2023b). Interpretation von Bruce Lees "Be like water, my friend". ChatGPT.


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